Schriftzüge: 1. Buch

(11-19)

11

Noch ahnen wir kaum. Welch Erstaunliches zu allen Zeiten geschieht, bleibt uns zumeist verborgen. Unser Gedanke scheint eine schwarze Fläche, auf der unsre Schritte hohl, dumpf vergehen. Noch, dass unsre Hände hohle Gefäße formen und dass sich unser Auge an der Dunkelheit der Welt erschöpft. Wir ahnen kaum. Wir trachten viel. Der trübe Geist unsres täglichen Körpers bettet sich um eine verborgene Mitte, deren Blüte unser Welken übersteigt. Jetzt! Gegenwart! Ach ...!

 

12

Ich weiß nicht, wenn ich denke, wohin mich mein Denken führt. Lässt nach den Tagen eine Art Reibung oder Widerstand nach, aus dem alle Wirklichkeit meiner selbst oder die meines Denkens zu bestehen scheint, zerfalle ich förmlich vor Stimmen und Bildern. Ich weiß nicht, von was meine Gedanken handeln. Sie zerfallen zu Straßen, entfernen sich zu Geräusch. Was ich als mein Selbst begriff, wird zu Gesichtern; meine Aufregung ein Schauspiel, Regen, Schleier, Dämmerung - und das scheint, weil ich nun erst zu sehen, wahrzunehmen beginne, anhand einer anderen Kraft, die von der des Denkens verschieden ist. Was sehe ich? Leere. - Ein Denken, das nur Geräusch erschuf; Geräusch, das aus seiner Steigerung zu Staub zerfällt. Schweben, von denen es nicht auszumachen ist, über welchen Gründen sie sich aufhalten; Schichten, die wohl zuvor Wände waren; eine Bildlichkeit, durch die ich falle; Gesichter, Schreie; eine Freude, die ein Feuer ist, ein Licht, das etwas Schwarzes umgibt. Alle Wirklichkeit zerfällt der Tiefe nach. Seltsamer Trug, der sich von unsrer Blöße, von den Poren unsres inneren Körpers löst. Theaterstücke, dunkle Possen. Wand‘rer sehe ich; alles strömt und stürzt, drängt, bricht sich in die Tiefe. Sterne vielleicht, Funken; eine Maschine, die jetzt nicht mehr verschlingt, sondern die verschlungen wird. Den Menschen ...

 

13

Seltsamer Dämon, aus mir oder aus Luft, der uns alles Nahe vorenthält. Unheimlich, was aus uns steigt und uns immer übergeht. Warum spreche ich denn, als ob ich niemand wäre, schütte das Gefäß, das leer ist, aus; zeige das Schattenspiel, von dem niemand weiß, wo es stattfindet, weil es sich immer auf dieselbe weiße Fläche wirft. Warum drängt sich ein Publikum davor; warum falle ich, entgehe ich dem Spiel, durch dieses entsetzliche Werk aus Gesichtern - schwebe, kaum dass die Handlung nachlässt, durch den Saal: Feder, ich weiß kaum, aus irgendeinem Schmuck, die schon die nächste Regung zurück in die Handlung wirft, wo sie Wörter schreibt und immer Wörter, die für alle sind und niemand und nichts. Da heißt es immer, ich schriebe Texte. Dabei schreibe ich nirgends, versuche nur vorerst, mich aufzurichten. Oder hätte mit Wörtern zu tun, dabei lebe ich unter Scherben. Die Luft oder das Dämonische lässt es nicht zu. Es lässt es nicht zu, dass wir erkennen oder dass wir sind, was wir sind. Also rufe ich immer: Ich schreibe nicht, ich bin! Aber „Wo?“ heißt es immer. Immer heißt es „Wo?“

 

14

Aus manchen der Tonbandaufzeichnungen hört man vom Gang her Schritte. Sie gehen durch die Worte wie zusätzliche Konsonanten. Eine Bewegung, die weder Weiche noch Regsamkeit besitzt und die nichts als Stellen weiß, die sie auf die immer selbe Weise ferner und näher wiederholt. Ich weiß nicht, was diese Verlängerung ist, die mein Gedanke annimmt in den Stunden. Mir scheint, dass alles zu Gassen wird, Hinterhöfen, leeren Plätzen, und sehe ich auf, ist es die Windhöhe, wo ich sonntags spazieren gehe, wo sich der Blick so weit ins Ferne verliert. Der Beweggrund aller Dinge lässt nach. Mein Herz wie ein Gerüst aus dünnem Holz, das sich immer dünner in den Nachmittagshimmel streckt. Es scheint die Abart eines Wurzelwerks, was mich umgibt, das durch eine Maschine lief, die nichts weiter dafür wusste, als es zu verlängern und zu entfremden. Manchmal seh ich Buchstaben vor mir aus Stangenwerk. Ich gehe vom einen zum nächsten, halte mich in ihrem Provisorium auf, sehe durch die Rechtecke zum Himmel hinauf, und weiß nirgendwo, was es ist.

 

15

Dieser seltsame Traum, dass die Dinge sich verlieren, eins ums andere gerät aus dem Rhythmus, der sie einförmig vorwärts trieb. Dieser seltsame Traum, dass die Dinge sich vereinzeln, dass neuer Bezug und andere Schrift aus ihrem Verhältnis tritt. Dieser Traum, der mich, kaum dass ich einschlafe, ergreift und eine Wahrnehmung entwirft, die nicht zu beschatten ist; dieses seltsam verborgene Leben gerät mir unter den Tagen zu einer solchen Schwäche; nur Regen und verlorner Zwischenraum steigt aus den Stunden, wo alles nur halb, nicht zu beginnen, aber auch nicht nachzulassen bleibt; die absurde Schwelle, die uns aufhält und abhält zugleich und doch der Ort selbst ist, nach dem wir suchen?

 

16

Es gibt uns nicht - träumend die ganze Nacht, scheint mir, diesen Satz umgangen. Szenen, erst dunkel, dann erhellt: Einsicht und Beispiel, wie es uns nicht gibt. Wenn ich mich erinnere, spielte das Alter eine Rolle. Zuerst die frühen Jahre, der lichte Bereich, unsre Lebensquelle, dass es uns nicht gab. Dann die späten Jahre, unsre Dunkelquelle, dass es uns nicht gibt. Mich schauderte der Einblick sehr, dass das Vokale, Lautliche so dunkel werden kann, so niedrig und belastet. Ein Trübsinn, für den es nur noch Ersatz gab. Alles Wirkliche war verschwunden. Feuer statt des Lichts; versprengtes Selbst, mehr Schatten als Körper. Das Reine flüchtig; das Sein ein Fenster. So gab es uns dann im Dunklen nicht. Altsein: statt steigender Quelle die weit ausgelaufene Quelle. „Sage der Abkunft“ hieß es vielleicht. Jugend: unsre Lust, nie da zu sein. Gläserne Stunden verwoben in ein Gebilde aus Schlaf. Atem, der sich nie aufgehalten fand. Hiersein: ein Spiel. Und plötzlich beginnt es uns im Nicht-geben-unsrer-selbst zu geben. Wir waren nicht und werden jemand, der aus uns hervortritt und der aus sich immer Abschied beginnt. Wendung war es, die fehlte; Atem, der sich wieder einholt und die wachsenden Gebirge zurück zu Zeilen schreibt. Am Ende Menschen gesehen, denen es selbstverständlich war, sich wahrzunehmen. Ihre Gesichter hatten etwas Frontales, sodass sie wie Masken wirkten, und ihre Gestalten glichen Türmen, die über düstre Länder schwankten, denen jedes nähere Detail, wenn auch nur die Zeichnung eines einfachen Hauses, fehlte. „Mein Gott, wie seid ihr so hoch!“, sprach ich vor mich hin, ohne aufzusehen, denn mein Blick galt der Fläche, der Suche nach Spuren, den Ereignissen im Detail. Statt ihrer sah ich das Sich-Kreuzen der Schatten: ein Gitterwerk, das mehr noch der Verschränkung von Fingern glich und bald noch mehr Trommelstöcken, die auf die bloße Erde schlugen. Über eines gab es nichts hinaus, nämlich, dass es uns niemals gab, im Licht unsre Lust, nie da zu sein, im Nächtlichen unsre große Schuld, das Vokale zu übersteigen und Krater zu sein unsres lebendigen Körpers.

 

17

Unheimlichkeit der Gespräche, mehr noch des Verstandenwerdens. Zum einen dieser Aufzug innerer Landschaft, die sich mit jedem Atemzug weitet. Zum anderen das spürbare Sortiertwerden im Geist dessen, der dich zu verstehen meint und dem du doch nichts weiter als Kulisse bist, Instrument oder Maschine, die von außerhalb Fiktionen erzeugt. Was zum einen Landschaft, ist zum anderen Marionette, die etwas lose an Fäden tanzt. Unser Atem das solitäre Gebilde evokativer Landschaft, im letzten der zuhöchst fremde Berg, der sich mit Wolken umspinnt. Aber wie sprach ich gestern! Ich muss wahnsinnig gesprochen haben. Ich weiß nicht, wann es mir je so gleichgültig war, mich über alle Gesten zu verlieren, seien es auch nur diejenigen, auch dem anderen eine Sprache einzuräumen und die eigenen Gedanken zu zügeln. Was sprach ich? Nichts, ein lebendiges Nichts; von Dingen oder mehr noch Tönen; von Umraum mehr als von Struktur; und mir war, einen Fluss vor Augen zu sehen, der aus Kieseln entsprungen war, ja, seltsamer: Ich redete eine Sprache der Steine, als wäre es nicht weiter schwer, das Vergleichende der Sprache zu verlassen und von dem, was ist, ganz selbst zu sprechen. Ursächlich war, glaube ich, ein Moment, der sich ereignet hatte, als der Abend eigentlich zu Ende war. Wir saßen am Tisch, und ich fand mich sehr still. Der Abend schien so auszuklingen wie die Gläser Wein, die wir am Ende anstießen. Wie still mein Bett sein würde, dachte ich noch. Aber da war es: dieses Sich-Senken, dieses Sich-Verlieren, diese Einsicht, als wäre der Klang der Gläser eine Linie gewesen, die mich sacht durchstrich, was plötzlich dieses Auf, dieses Jetztsein, dieses Gegenwart ergab, so viel reiner hinauf, als ich war. Und bei allem, was mir heut verblieb, an Unheimlichkeit, an seltsam farbiger Fiktion: Ich weiß, dass mein Sinn, den ich trage, verloren gehen möchte diesem Augenblick nach. Es gibt Sprache, und es gibt eine Zeit, welche die Zusammenhänge unsrer selbst reiner begreift. Ich bin sprachlos. Ich bin überfüllt von Sprache. Und beides scheint dasselbe.

 

18

Gebete - einem Mann zugesehen, der sich, ich glaube mit einer Säge, die Beine abtrennte und dies doch kaum bemerkte, so versunken wie er war, so eingetaucht in sein Gebet. Eine Säge oder, fällt mir ein, ein „Rasterer“; denn Schnittmuster gingen davon aus (kurzatmig, schnell). Und da stand er auf, an Krücken, und aus seinen Stümpfen floss das Blut, strömte das Blut, und man sah ihn über das Land wanken, und, wie sich in Wasser, das sprüht, ein Regenbogen zeigt, war auch ein Regenbogen aus seinem Blut - und wieder bemerkte der Mann es nicht, denn alles war Gebet. Merkwürdig, dass mich solche Träume nicht erschrecken, im Gegenteil, ich vergesse sie fast, aber dass ein innerer Charakter bleibt, der sich als eine Art Schrift durch die Dinge setzt, sodass mir alles, was ich denke, wörtlich erscheint - als wäre die Welt über Nacht zurückgekehrt, hätte den Traum lang in sich selbst gewohnt, und sie stünde nun am Anfang ihrer selbst, am Anbeginn einer neuen Zeit. Eine Schrift, als wäre/läge ein Horizont, hinter dem es noch keine nächsten Horizonte gibt - und diese ersten Schritte, die wir unternehmen, sind der wörtliche Ausdruck, seltsam gegenwärtig, sodass wir an dem, was sich doch nur wiederholt, staunend stehen bleiben. Später das Gesicht einer jungen Frau. Ich sagte zu ihr: „Du bist ein gutes Werkzeug. Mit dir könnte ich sein. Du hast ein wörtliches Gefühl. Lass uns zusammenbleiben!“, worauf sie aber verschwunden war, oder vielmehr: Sie war der Morgennebel, den ich auf den Feldern erahnte. Im Traum scheinen wir uns instinktiv zu verhalten. Was wir am Tag geläutert erfahren, wird im Traum zurechtgeschnitten. Am Tag berühren wir, in der Nacht greifen wir zu: Die Verwirklichung unsrer selbst geht mit Konturen einher, die, je innerer, desto strahlender, ausschließlicher werden, aber im Täglichen nur wenig zu vermitteln.

 

19

Diese Wölbung gestern Nacht. Du blickst in dich, und du erkennst dich nicht wieder. Alles, was du bist, liegt an einem Hügel, und der Hügel dröhnt. Was du warst und noch bist: eine Art Unkrautgewächs am reinen Phänomen des Seins, das da so schwarz, so schwarz um dich fällt, mit dir fällt und von dir fällt: Einen Reigen sah ich aus tausend Personen, die alle kamen und alle fielen. Und doch, was da so dröhnte, was da so schwarz, was niemals zu betreten war, was da so rein, was da so fern, war deines: dein Eingang; und das zu spüren, wie sich die Zeit darüber wölbt, wie sich nur flüchtige, verzogne Gesten bilden, ein Jahr ungenannt darüber vergehen könnte: schwarzer, reiner Kristall, der nicht nachgibt - er kennt dich nicht.