Schriftzüge: 1. Buch

(30-39)

30

Wie warm es die Tage war, obwohl so spät im Herbst, sogar eine Grille war noch mal zu hören. Über den Pflasterweg mit dem Laub strich ein warmer Wind, und der Kirschbaum rauschte. Nachts bei offenem Fenster gesessen, es für merkwürdig befunden, wie die Luft täuschen kann über das, was sie verbirgt. Manchmal, dass mir alles wie ein Film erscheint. Ob ich in den Fernseher oder aus dem Fenster sehe, macht kaum einen Unterschied. Ein Mit-Dasein ohne bestimmte Kontur. Alles im höchsten Sinn ungefähr. Ein Umriss offener Form, der sich mit keiner Eigenheit trifft. Wenn ich nicht sagen will, steckt viel Trost darin, uns muss es nicht geben, wenn wir nicht wollen. Zeilen, die sich als Muster vollziehen, die Fenster umrahmen mit Beiwerk. Keines zwingt mich, dem Leben näher zu sein als der Schatten, der durch das vorüberfahrende Auto an der Decke entlang zieht, die Tropfen zu sein, die am Nachmittag auf die Zeitungsblätter fielen oder das einzelne, starre Laub, das sich auf dem Pflasterweg verrückte. Die Welt ist erstaunlich ungefähr, und dieser Zug nach innen, der uns zu Worten führt, ist leicht mit der Schwerkraft zu verwechseln. Bis ans Herz bin ich ungefähr, und wenn ich nicht will, kann ich es umkreisen, halbes Angesicht, das in seiner zeitlichen Gegenwart in den Abgrund stürzt. Gestern dieses spürbare Brauchen. Selten, dass sich mir der Schmerz so deutlich zeigt. In der Welt muss ein Name sein. Nacht und Düsternis waren wie ein Spiegel. Metapher, die beginnt, aus ihrem beispielhaften Vorübergehen stehen zu bleiben, dich anzusehen, kein Gott könnte fruchtbarer sein. Unendliches Bedürfnis nach Stimme, Körper, der einatmet, Welt, die wieder den Austausch beginnt.

 

31

Als die ungefähre Auslegung eines Wortes kommen mir die Morgenstunden vor, als begänne ein Schachspieler seine in Erde und Sand versunkenen Figuren auf vorerst nur mit dem Finger gezeichneten Feldern wieder aufzurichten. Was wir eigentlich waren, spielt an der Auslegung nur eine nebensächliche Rolle; wie wir dachten, trifft auf die seltsame Verschlossenheit; dass wir atmeten, auf die gedrängte Figur, und im Schatten aller Dinge steht die Chiffre, die den fremden Klang erzeugt. Im Grunde wäre alles einfach. Ein Mensch in Stimme und Form. Aber deswegen, weil alles so einfach wäre, scheint alles so verschlossen und fremd. Wir sind dem Leben so nah, dass wir uns immer übergehen, und begreifen leichter dasjenige, was von uns entfernt steht. Und die Welt ist von seltsamer Arroganz. Als klängen noch in der Luft die Schritte von Heroen nach, die unsre kleinen Landstriche auf den Zügen ihrer Eroberung durchschritten. Da ist kein Ding, das so nicht gerüstet wäre und sich unsrem Sehen nicht wie kriegerisch entgegenwürfe. Offenbar ist jene einfache Linie, die uns erhielte, und der wir im Schlaf zuweilen begegnen, den Weltdingen unbekannt, oder ist ihnen so verborgen, als würde es sich dabei um eine Ader handeln, die in Schichten verzweigt unter dem Bannwerk von Felsen verläuft. Ich weiß mich nicht zu fassen, folge ich dem Schlaf nach, mein Geist gleicht einer geballten Faust, und nur in den Tiefen lösen sich meine Finger und beginnt meine Hand sich zu öffnen. Und mich durchgehen, wenn ich aufwache, Landschaften, die von mir ab ins Tiefe fallen. Rinnen und Regen und Fall ist meine innere Zeit.

 

32

So wie du etwas benennst, benennt es auch dich. Wirklichkeiten, die aus der Begegnung von Namen bestehen. Somit der Name als der Inbegriff aller Dinge. Weil du so nennst, wie die letzten Tage, geht nur Regen durch dich. Dein Körper Geräusch, dein Auge eine Art linkslastige Nebensächlichkeit. Benennung scheint es, durch alle Dinge. Wie aber soll es gelingen, immer diese hohen Namen zu führen, aus dem Fall herauf der Musik zu folgen, die sich so himmelhoch über die Tage erstreckt und nur an den Abenden, an den Sternen etwas nachlässt. Ich bilde keine Inseln aus dem Tagesgeschehen. Mein Blut ist kein Fluss und meine Stirn ist keine Schale. Ich eile auf Straßen. Ich hab Fliegenschwärme, die mir folgen, und mein schwarzes Herz. Wie könnte ich Namen haben? Seltsam, dass ich erst werde, wenn ich den Bezug finde, der so allgemein und reich zwischen einem  Hier und Dort entsteht. Er ist das Spiel und er ist alle Welt; er ist Schiffe, die Botschaften tragen, hin und her. Dazwischen das Gespann meines und eines Atems, der die Botschaften deutet, die an den Ufern umschwirrte, umschwungene Kiesel sind. Von da im Augenblick das Sonnenlicht, Geist, der den Worten vertraut, und in der Folge Namen. Ich weiß mich ohne ihn, diesen Geist, immer weniger. Schaue manchmal, als ob ich aus nichts mehr bestünde als einem unerkannten Schlaf, über dem die unerkannte Geräuschwolke schwebt. Staune viel. Es heißt wohl Zeitverlust. Es heißt, dass die Zeit verlangt; dass ein drängendes Bedürfnis in ihr besteht, nach uns selbst.

 

33 

(...) Seltsam, dass du das mit dem Regen schreibst, wo es derzeit ein so mächtiger Gedanke für mich ist, im Regen zu stehen. Hier hat es auch viele Tage geregnet. Gestern noch mal Sommerregen, ganz vereinzelt: auf der einen Seite, im einen Fenster Regen, im anderen keiner. Oder als ich einkaufen war: ein Stecknadelregen. In der Nacht davon geträumt. Ein mächtiges Bild: In einem Schauerregen, der schaudern macht, Figuren aufzuführen. Oder dieser gestreute Regen, der aufs Fensterbrett fiel. Mein Gedanke, wie man dies vereinen können soll zu einer dann tragenden, vielleicht erkannten, erkennenden - ich weiß kaum - Stimme?

 

34

Heißt Über-Holz-hinweg-schreiben auch Wort? Wann heißt Wort sich selbst? Heißt Am-Ende-der-Luft-etwas-aufblitzen-sehen auch, zu sagen? Oder ist Wort nur Wort, wenn es in seine Mitte tritt? Hat es eine Mitte? (Eine Sonne?) Der Traum oder Halbschlaf taucht ins Viertel, greift auch das Achtel auf, weiß von dem Kiesel und träumt ihn zum Berg. Aber wir, was wissen wir? Ein Drittel bleibt ein Drittel, ein Sechstel bleibt ein Sechstel. Wort wird es nicht. Im Dunkeln des Vorhangs, der einen Spalt offen steht, blitzt das Sekündliche wahrer Erscheinung auf; was aber hervortritt, zu Beginn, sind Schauspieler. Waren wir trotzdem das Wort? Auch, wenn wir nichts weiter wissen als Bögen und Gesten, Handlung und Fall? Sind wir trotzdem? Das, was da rauscht; das, was sich anhört wie ein Kratzen auf Holz; das, was das Negativ eines hellen Himmels scheint, blaue Sonne, schwarze Nacht - heißt das trotzdem Wort und lässt sich schreiben und schafft uns Wege und ist uns nicht fremd? Ich frag mich oft, wenn ich das, was da kratzt oder schwarz und blau am Himmel steht, anzunehmen wüsste - was wäre es? Ich?

 

35

Unter all dieser Blödigkeit, die ich ja mehr und mehr lebe, doch diese starken Farben; so sehr, dass mich zuweilen eine solche Rührung ergreift, über alle Dinge, von den Blättern auf meinem Tisch bis zu den Blättern des Kirschbaums, als wäre dies alles, mit dem Welken des Sommers, der warmen Luft, die in den Schatten kühler ist, dem Steinweg mit den schwarzen Kirschen und dem Teich dahinter, alles dasselbe Buch. Im Geist kaum fähig, zwei Worte aneinander zu halten, blühen darunter Farben, als hätte ich ein Herz aus Weiß, das sich rings in ein reines Rot ergießt. Selbst das Werken und dessen Geräusch sehe ich als farbig an, mehr noch, als hörte ich Höhlen darin, als gingen durch den Garten nächste Volumen, und alles dies wäre ein Spiel aus Kreisen. Seltsames Auge, mit dem alles Land und Welt heißt, vor den Sinnen verschwimmt und uns mitzieht.

 

36

Die zerstörten Rhythmen sind doch diejenigen, die am meisten Licht und ebenso Verständnis für das Tiefere schaffen. In all meiner Blödigkeit erlebe ich diese Farben. Der Traum, der sich fast vollständig löst und diese, ich weiß nicht: Bahnen annimmt, zu einem Verständnis, das weit tiefer geht, als ich es sonst habe. Diese furchtbaren Kehrreste, in die ich aufwache; Schwärze und dort ein Schiff, das an einer Klippe zerbarst, aber ich habe Farben erahnt, die wundervoll waren, so viel Licht und Lebendiges ging in ihnen vor. Dieser Hieb in mich selbst, der, bei aller Chiffre, die daraus entsteht, oft weiß ich mich gar nicht mehr zu denken, doch dieses natürliche Licht aus mir hebt; stiller, naiver geh ich durch die Tage, im Garten unter dem Laub, das der Wind verweht, liegen reiche Gewänder. Dieses Geheimnis, sich zu zerstören. Zwar geh ich aus und bin bald niemand mehr, froh, unter den Händen noch den Kaffee hinzubekommen, aber ich war ein Tausend noch zuvor im Schlaf. (Der Schlaf ist mein Mensch). Mir scheint, ich habe gelacht, vielleicht so: Über einer Quelle stand ich, die einen mächtigen Fluss schuf, und mich trieb es nicht fort, ich schwebte und die Quelle, eine Säule, umgab meinen Körper. Hoch will das Leben hinaus. Die Eisschicht aller Tage, die der Staub der Tage schafft, war verschwunden.

 

37

Manchmal, dass er so begeistert ist von einer zerstörten Rhythmik, sie schafft ihm Hoffnung. Sie zerrüttet sein Wesen, und er hofft. Gestern, an einem Text, der sich so verweht dahinzog, bis sich zeigte, dass er tatsächlich verweht war. Unversehens kommt Licht und Wendung hinzu, als hätte man nur zu begreifen und ebenso zu achten, dass die Dinge sind. Zuvor noch alles gedacht und abstrakt, blickt dich das Leben an.

 

38

Ich konnte ihr zuhören und glauben, als sie eher in Bildern anstatt in Worten mein eigenes Atem-Dasein (ihr Bild, ihr Wort) gegen das vielleicht eher verborgene Atem-Dasein der anderen stellte. Sie waren noch eher, schien es, auf ihre Körper gegründet. Wir aber hatten uns, auch durch die vielen Nächte,  immer mehr auf unsere Luft oder das Luftige überhaupt, auf die Schwelle gegründet, wo die heimlichen Dinge vorüberziehen, wo die Atem-Bilder sind und das Atem-Denken (ihr Bild, ihr Wort). Und so waren wir, sie sagte es, besser als jene, die sich noch mehr auf ihre Körper gründeten. Ich konnte ihr zuhören und glauben. Was die Körpermenschen leicht verführte und was sie zu Handlungen trieb, konnten wir fast leicht übergehen, und waren dadurch viel weniger bedroht. Wir waren, in etwa: die Rück-Bezügigen, und was es von uns gab (noch),  stand, weil wir eher den Rücken und die Schulter lebten, nicht mehr zum Angebot. Das, was die Körpermenschen nur wenig verstanden, das Angebot ihrer selbst, das in alle Höhen und Tiefen stand, war für uns nicht mehr geltend, wir boten uns kaum noch an. In einem zweiten Blick oder im Weiteren aber: dass es um diesen Vergleich nicht ging. Ob wir nun besser waren oder schlechter, spielte im Grunde keine Rolle. Eher war es die Frage nach einer Landschaft, die fern war und etwas trist und der wir uns zu stellen hatten. Dahinter, glaube ich, war ein nächstes Bewusstsein, des Atems selbst. Dorthin hatten wir zu kommen oder uns zu wenden, und gegen dieses Dort begann auch sie zu fragen - die Menschen mit ihren Körper hatte sie im Grunde nur gestreift - ob wir bestehen.

 

39

Wenn auch zerfallen, bleibt es doch merkwürdig, welche Harmonie das Selbst besitzt. Es zerfällt wie vor einem Spiegel, und da bleibt immer Spiegel. Deshalb schaue ich und begreife kaum, welche Schwäche in mir ist. So zerfallen das Selbst, trägt es doch diese bildliche Harmonie. Als wäre da immer eine Hand, sie reicht sich her, du musst nur begreifen. Metapher oder Sinnbild, vielleicht eines Spiels, und es genügt das Eine zur Wendung, zur Wiederkehr. Gestern im Garten bei den Pflänzchen die dichte Frühlingswärme und der Geruch der feuchten Erde - die Tage hat es immer geregnet - der zu mir hindurchdrang. Wirklich nahm ich ihn wie durch eine Glasscheibe wahr, beinah verwundert, was da draußen sei. Sicherlich, zuerst meine Lebensweise, immer im Zimmer zu hocken, wenig Anteil zu haben; aber dann war es auch ein Beispiel meines Denkens, so lange schon, so lange kein weißes Blatt mehr vor Augen. Diesen Unterschied gibt es doch sehr: Unter den flimmernden Sekunden zu stehen, alles neu aufs Blatt zu setzen, oder eben, wie diese Tage, Texte abzuschreiben, sich bloß zu wiederholen und allen Atem zu verlieren. In den Räumen ist alles voller Schwelle, aber es findet sich keiner, der die Schwellen geht. Und ist da keiner, der die Schwellen geht, ist da nichts, was mich bewegt. Und immer ohne diese Speise - denn es ist eine - wahrer Gegenwart zu sein, ich weiß nicht, was mich mehr verheeren könnte. Bei allem Licht gestern im Garten kam ich mir selbst vor, als hätte ich gar keine Farben mehr.