Schriftzüge: 10. Buch

(1-10)

1

Ohne Läuterung kein Sprachgefühl. Auf so einfache Weise stellt sich mir nach den zwei Wochen Urlaub, in denen ich stolzerweise nichts tat, mein Schreiben dar. Die Blätter sind mir fremd, weil sie mich an Gänge, Tunnel, Löcher erinnern. Ja, im Licht dieser zwei Wochen sehe ich statt Sätzen zweidimensionale Grabungsgebilde, und mich schaudert etwas das geistige Tier, das diese Gebilde schuf. Gestern in einer Erhöhung wie selten aufgewacht. Uns durchgeht eine lichte Ader, die auf alle Umstände unsrer selbst, auf unsre trägen gesellschaftlichen und persönlichen Verhältnisse wie ein Blitz wirkt. Reinen Gewissens aufgewacht, und die Sorgen, die sich wieder näherten mit ihren dumpfen Rhythmen, leichthändig, leichtfüßig durchdrungen. An der Kraft unsres inneren Gedankens lösen sich alle Weltdinge wie an einer Säure auf, und innen steht uns nichts als der feste Gedanke, der nur das eine Gegenüber kennt: Himmel und Wolken und Schicksal, vereint zur unermesslichen Höhe. Sehe ich auf dieses Wirken zurück, will mir alles sonst als ein ebenso banales wie vertauschbares Spiel erscheinen. Mir ist, mein Leben wäre nichts als eine Anordnung von Möbeln, die ohne persönliche Eigenschaft in einem Zimmerblock stehen, den es schon vor mir gab und nach mir geben wird und den schon tausend andere auf ähnliche Weise bewohnten. Alle mögliche Struktur ist höhen- und tiefenlos, und wie könnte es je gelingen, ohne Höhe und Tiefe einen wahren Ausdruck unsrer selbst zu schaffen. Wir durchgeistern den Raum, dem der Raum fehlt, als Schatten, und als nichts mehr kommen mir heute meine Texte vor: Sie sind der Schatten, der sich selbst durchgrub und aus sich Schattengebilde schuf, deren höchster Ausdruck an den Innen- und Außenrändern, die verzerrt und verschwommen sind, an den Rundheiten und Gefällen Stimmen erahnen lässt, die es für den Schatten, der ich war und wieder sein werde, nicht zur Bewusstheit gab. In unsren wachen Stunden staunen wir vor der Andeutung des Lichts. Nehme ich die Blätter beiseite, ist mir, ich hätte in ein Schwarz geblickt, das sich, wie aus einer Blendung, weiß entzieht. Und vor meinem Auge stehen all diese Lichtränder, diese Mondsicheln und Sonnenkoronen: Kranz- und Krongebilde einer Gegenzeit, die sich trotz Dunkelheit und Zeit-aus-nichts-als-Schatten widerwarf. Was ich sehe, gleicht einer zerstreuten Buchstabierung eines Himmels, die sich aus dem Geflecht, einem Teichwuchs der Tage, gegenzeigt. Seltsames Anliegen und seltsame Antwort, die noch keine Wolken kennt und der die wirkenden Tage fremd stehen. Ich staune, wenn ich wach bin, wie sich unseres nie bewegt. In Kränzen und Kronen steht dasselbe Wortgebilde, um das sich mein Atem leicht verfängt, ein Spiel aus Schwung und Glanz, das nichts weiter sagt, als dass wir sind und gelten und bleiben. Unermessliche Höhe, an der noch die Welt, die nicht Welt heißt, weil sie um ihre Leichtigkeit nicht weiß, so klein erscheint.

2

Die Kraft, die aus der Schwäche steigt. Obwohl alles müde ist, vom Kirschbaum, in dem die Tropfen fallen, bis zum bewölkten Horizont, hat dein Herz erst in solcher Zeit wahres Bild und ein Wort, das der Wörtlichkeit der Welt näher folgt: durchsichtiger Gänger am Rand eines Feldes, getrübte Schablone, durch die sich die Sonne als zu betrachten zeigt. Mich wundert der Genuss, den ich anhand meiner Schwäche erfahre. Obwohl ich wenig fähig bin, der Eile des Tages zu folgen, vieles vergesse, verschwommen bin, mich kaum konzentrieren kann, stehe ich in aller Deutlichkeit da, wie man sagt: von Klarheit umfangen. Die Schwächung der einen Kontur führt zu einer Stärkung der anderen Kontur, und, mein Gott, diese nahen Stimmen zum Schlaf, und die Bettdecke, die leichthin zur Höhle wird, und im Inneren der Höhle, in ihrer Mitte, ganz sicher: Quelle.

 

3

Dieses Nichts im Schlaf. Wirklich: ein wahres Nichts. Ohne Träume verlebe ich die unbewussten Stunden, am Morgen etwas verwundert, warum sich kein Bild und keine Szene, keine Struktur eines Gedankens zeigt. Etwas wacher, beginnen die Sorgen, die Anhäufung aller Dinge, in der ich zu sortieren beginne, das Voraus- und Nachdenken, wobei vor allem die vielen Telefonate, die ich unter der Woche führen muss, eine Rolle spielen: Mir ist, mein ganzes Leben wäre ein Telefonat, irgendeine hohl- und dünnsprachige Nacht mit Gerüchten von Menschen und Geräuschkulissen, die wir nicht verorten können. Im Besonderen heute Morgen eine Frau, mit der ich vorgestern ein Gespräch führte. Sie kam mir im Aufwachen wie ein Würfel vor, den ich nach allen Seiten drehte und der immer die gleiche harte Kante zeigte. Ich selbst eine Art Wind oder ein rauschender Baum, Blätter aus Augen und Händen, die den Würfel drehten, die den Würfel schauten - was im ganzen einen Rhythmus ergab, dem gleich, mit etwas zu weichen Reifen über ein hartes Feld zu fahren und über die Betonung dauernd harter Erde jedes Volumen zu verlieren. Am Ende die Frau unnahbar und von mir abgebrochen in einem schwarzen Spiegel gesehen, was ganz der Zeit entsprach, in der ich momentan lebe: Eine Zeit, in der sich ein Gewesensein nicht durchsetzen kann, in der wir über Kanten hinausstranden in ein wahres Nichts. Gewesensein: Ohne dasselbe, kam es mir vor, gibt es in den Nächten keine Zeit. Wenn wir nicht gewesen waren, geht die Nacht ohne Zeit an uns vorüber. Voraussetzung von Zeit scheint das Gewesensein. Wir finden in den Nächten kein Leben, wenn den Nächten nicht das Gewesensein vorausging. Uns erwartet in den Nächten das wahre Nichts: In etwa ein Maler, der sich in Gesten verfing, ohne auch nur die eine Linie aus sich hervorzubringen. Es liegt an uns, immerfort, uns immer neu aus dem Nichts zu erschaffen und weiterhin aus dem Nichts eine Art Gewebe zu beginnen, unsren Zusammenhang, der wohl im weitesten unser Körper wäre.

4

Zwei Sonnentage, wenn auch von Langeweile durchsetzt. Geburtstag eines Freundes, ein Türmchen aus Grillkohle, aus dem der Rauch steigt. Archaisches Wetter über dem Garten mit dunklen Wolkenkontinenten und Windgefälle, das aus dem Kirschbaum die ersten noch grünen Kirschen schlägt. Er genießt das Zusammensein als gemütlichen Vorwand, nicht an sich denken zu müssen und durch die Anwesenheit der Freunde die täglichen trüben Muster seiner Arbeit wie mit einem Wolltuch zu verdecken, auf das sich die seltenen Regentropfen streuen und das so frisch nach Ordnung und nach Samstag duftet. Über dem Garten ziehen die Länder vorüber irgendeiner Wochenzeit, die er sanft mit Gesprächen und den allerlei Getränken unterbrückt. Er blickt von seinem Platz aus in die Nachbargärten, auf die zumeist älteren Leute, die mit Gartenarbeit beschäftigt sind; in die Gewächshäuser, wo Sträuche von Tomaten stehen und auf die frisch gemähten Rasenflächen. Im Glas Whiskey, von dem er trinkt, fängt sich das Sonnenlicht, und ja, es ist wohl eine Zeit, er hat wohl ein Leben. Der Wind, der ihn umfängt, will einer weißen Säule gleichen, und für den Augenblick ist alles rein und fügt sich wie ein Anfangsbuchstabe in den Garten ein.

 

5

Alle Sprache des Geistes scheint sich auf Phänomene zu gründen, die flüchtig sind; auf Motive, die verborgen bleiben; auf Worte, die niemand sagt. Mein „Geist-Haushalt“ gleicht stets einer Bewandertheit von Wolken, einem Ziehen von Wasser, das noch niemand entdeckt hat; einer Quelle, die sich in einen trüben Strom ergießt. Ich trage Bilder, Erinnerung, die Gegenwart eines Geistes, der sich, wenn, nur niederschlägt in mir, sei es durch Albträume, durch Laster; der sich also übersteigert, aber selbst in seiner Übersteigerung niemals seine Stille, seinen Mangel an Ausdruck verlässt, sodass ich also, was mich wirklich angeht und beschäftigt, nicht weiß oder bald vergesse. Deshalb ist mir nichts verwunderlicher, als an einem Sonnentag, der nur sich selber kennt, aufzuatmen und zurückgeworfen die uns eigene Sprache zu vernehmen, die sich so rasch an allen Dingen kräuselt, als bestünde die Welt aus lauter Figuren, die von allem direkter und einleuchtender handeln, als es die großen Dinge tun. In nur einer Sekunde habe ich, was mich den Tag bewegte und als Steine und Widerworte und Erdenschwere durch mich ging, bereits abgehandelt. Habe ich aufgeatmet, geht das Kräuseln der Figuren durch mich, die an allen Dingen Auswege kennen und über die Auswege alle Dinge vereinen.

 

6

Diese Art von Blödigkeit, die ich mehr und mehr trage, dass ich nämlich, anstatt die Menschen zu verstehen, versuche, die Menschen zu hören, und auf nichts treffe außer auf Nebelgebilde, Wandfragmente, ja, auf die Abwesenheit aller Menschen. Wenn wir uns nach dem richten, aus dem sich nächtlich unser Sinn erfüllt, herrscht an den Tagen nur Leere. Ich weiß weder was ich tue noch was ich sage, wenn ich statt des Verstandes mein Gehör in den Tag halte. Ich vernehme Bilder, Farben, Formen, die immer vielfältig sind und die bekannten täglichen Formen überspielen. Dieselbe Person kann mir gestern abschüssig gewesen sein wie ein Hang in einem dunklen Wald und heute zum Inbegriff werden aller Tugend. Was ich wahrnehme, gleicht oftmals Gewittern, als wären Lasten von Donnern umgeben und als herrschte in den Zimmern eine aufgeladene Luft. Alles sucht, rührt sich, wandert, ist unterwegs aus dem Provisorium seiner selbst die hohe gültige Stadt zu erschaffen, wo alles weiß ist und rein und durch die Gassen ein geläuterter feiner Regen fällt. Mein Herz ist nie still, ehe nicht der Blitz das Rühren und Suchen durchwirkt, und aus dem Fall der Farben das Weiß entsteigt. Erst dann vermag ich zu wohnen, und scheine sonst im Verborgenen nichts als einen Ekel über alle Erscheinung aller Welt zu haben.

7

Im Waldgeist unterwegs, der mir auch immer mehr als ein solcher erscheint und mich bis in die Träume begleitet. Ich sehe sein grünes, wuchtiges Gewebe, das mich umfängt und mich mit seinen Fliegen, Stechmücken und seinen Verlockungen in sich einweben will. Gestern die ersten Gold-Röhrlinge gefunden, die aus einem Hang mit Wurzelwerk und vorspringenden Sandsteinfelsen ragten, gelb beschirmte Männchen in dichter Wanderung den Hügel hinan. Die Schirme der Pilze kommen mir wie Lider vor, in denen große graue Töne schlafen und die sich verträumen vor Waldgeruch und, wie ich oftmals denke, einem seltsamen Geschlecht der Tiefe, als gingen unter dem Waldboden Frauen- und Männerkörper vor, die sich in dichter Umarmung, Strömen oder Adern gleich, ineinander verschlafen. Mich verlockt nichts mehr, als, wie man im Russischen sagt, die „Kinder des Waldes“ zu finden, und die Wälder werden mir erst bewusst, wenn sich in ihren Fluchten die rhythmischen Schirmchen zeigen. Nähe wird es, die mich an den Boden zwingt und aufsehen lässt zu den Baumarten, wobei sich mein Blick in mir festigt, und wenn auch die Tage nichts sind, gibt sich doch dieses Sehen wieder, als drehte sich mit aller Schwärze, die wir nie durchdringen, eine Art Schallplatte in mir, die, wenn auch ohne Worte, das Gewölk der Baumkronen wiederspielt.

8

Nach den paar Urlaubstagen wieder dieses unheimliche Gefühl, dass ich, auf mich alleingestellt, wohl nicht mehr fähig wäre, zu überleben. Das Alleinsein holt Schichten aus mir, die so unbekümmert, so verwildert sind, dass ich an der Stunde ersticke, ja, als lebte ich unter lauter Kürbissen, wie sie sich auf dem Komposthaufen dicht belagern. Mein Puls, der über die Arbeitstage springt, gewohnt an das Schrillen des Weckers, gewohnt an die Schritte und täglichen Worte, taucht, bin ich längere Zeit allein, derart in ein Nichts, dass es mich wahrhaft körperlich schwindelt. Mein inneres Sein bedarf der Gärtnerei, bedarf, ich weiß kaum, dem deutlichen Wort, einem Morgen, worin sich meine Sinne begegnen dürfen und den wahren Schluss vollziehen. Ansonsten breche ich auseinander. Ich scheine in den alleinen Stunden nur noch aus Furchen zu bestehen, die sich wie Wunden verhalten und eigentlich Risse sind, ja, Abgründe meines verfehlten Seins. Da wundert es mich, wenn ich alleine bin, dass es mich noch immer gibt; dass der, den alle Tage übergehen und der seine Stunden als eine Person verbringt, auf die es regnet, ohne dass er selbst es spürt, auftaucht und bedarf. Plötzlich sind die Bücher, die im Zimmer verstauben, wieder von Botschaft durchdrungen, und die Stunde entpuppt sich als ein Spiel, das es zu gewinnen gilt. Es gibt ihn, den, den alle verschweigen und der sich selbst immer verschweigt. Er steht mitten im Raum, knorrig wie ein alter Baum, zerfetzt und schmutzig wie eine Vogelscheuche, und führt in seinem Mund das Wort, das sich dreht und kreiselt. Mein Gott, denke ich manchmal, das Leben ist „gemeint“; kein Vorwand, kein Abgleich ins Nirgendwo, nein: Das Leben ist gemeint.

9

Zu den Verfehlungen dessen, was man im Allgemeinen als Leben bezeichnet, gehört, dass uns für das Leben in diesem Lebensentwurf keine Zeit bleibt. Die Bedrängnis entworfenen Lebens ist für den, der leben will, so groß, dass von denen, die leben wollen und von ihren Ideen, zu leben, nur noch Bastionen bleiben, die dürren Gerüsten gleichen entlang einer winterlichen Landschaft. Wir haben der Entworfenheit des Lebens kaum noch etwas entgegenzusetzen. Für die einen Ordnung, trifft auf uns selbst Durchtrenntheit, die von Zufall durchzogen alles Wirken innerer Kontur vernichtet, denn alles, was Wirken war, gehört in unseren Tagen dem Zufall an und wird als solcher weder geschätzt noch wahrgenommen. Wer könnte oder wollte noch das offene Wort führen in einem Lebensentwurf, der sich vor Belanglosigkeit überschlägt. Was den anderen Muster und uns selbst seltsames Spiel der Mäuse, in lauter kleinen Höhlen kleine Dinge zu verstauen und unsren Himmelskörper in staubige Dachkammern zu verbringen, ist dem Menschen, der noch zu leben trachtet, ein tägliches Schwert, das ihn immer bekämpft, nämlich soll er sich nicht wiederfinden, als dass er sich unter seinen Stücken verzehrt.

10

Beim Rasenmähen mich wie innerhalb eines Tores gefühlt, das der sonnige Tag und der weite Bogen des Himmels war. Mit den Toren, die wie nichts sonst aus unserem Gemüt steigen, verwebt sich der Zwischenraum in die Gegenwart, und vor Staunen förmlich an der Arbeit vorübergegangen, sodass der Rasen unversehens gemäht war und ich keine Mühe oder Zeit verspürte. Stattdessen das Blau des sonnigen Tages und das starke Gefühl, mich in einer Mitte aufzuhalten, ja, mit dem ganzen Körper mittig zu sein. Was sich Fühlen oder Denken nennt, kann zu einem Strand werden, wo sich seltsame Schichten übertreffen, eines gespannten Meeres, das voller Erwartung ist. Ich sah etwas, ich weiß kaum, mir war, ich wäre von Sehen durchdrungen und wäre erwacht um den Anteil meiner selbst, der sich ohne zu versickern über den trüben Strich eines Ufers schöbe. Malerei schien es auch, die sich aus dem Verborgenen begänne, als setzten sich in der Luft wieder Farben an: da war ein Strauch so weiß, da war eine Rose so rot. Mitten in diesem Wandern, was es viel mehr war, mehr als ein Gehen oder Schreiten, kamen Bekannte zu Besuch, aber durchdrungen von dem Zwischenraum waren es viele ihrer und vor allem viele meiner selbst, als wären die Bekannten von Spiegeln umgeben gewesen, in denen wir uns vielfältig zeigten. Auch waren es seltsame „Luftbücher“, die sich von Wind und Sonne bewegt im Garten öffneten, mit Seiten unbekannter, noch nie übersetzter Schrift. Mag sein, dass dies alles nur aus einem Überschuss kam, weil ich so wütend geschrieben hatte und viel Lautheit in mir war, die ihren Raum in der Lautheit des Rasenmähers fand, aber da war es doch dieses große Tor und alles blau und Meer, auf dem sich ein Schiff befand auf Reise.